Tandem der Rentensysteme
Susanne Kapfinger, Ökonomin und Leiterin Redaktion AWP Soziale Sicherheit
Länder wie die Schweiz, Frankreich, Italien oder Deutschland haben das Rentenalter erhöht. Diese Massnahmen sind jedoch unpopulär. Ausdruck des Unmuts sind zahlreiche Rentenstreiks – aber nicht nur. Auch die steigende Anträge auf Invalidenrente geben Zeugnis davon. Die Studie «Optimal retirement with disability pensions» zeigt: Invalidität ist ein alternativer Weg, um aus dem Arbeitsmarkt zu scheiden. Und dieser Weg wird auch genutzt.
Die Untersuchung von Professor Hans Fehr belegt, dass eine Erhöhung des Rentenalters zu mehr Anträgen auf Invalidenrenten führt. Alters- und Invalidenrenten sind also ein Duo, das gemeinsam betrachtet werden muss, statt jedes für sich. Es gibt verschiedene Gründe, die zu einer Substitution der Altersrente durch eine Invalidenrente führen können. Dazu zählen gesundheitliche Belastungen, Leistungsgrenzen von Erwerbstätigen und wirtschaftliche Anreize.
Altersbedingte Leistungsgrenzen
Eine verlängerte Erwerbsdauer überfordert viele ältere Arbeitnehmende, so dass sie gesundheitsbedingt früher aus dem Berufsleben ausscheiden müssen. Die Invalidenrente ermöglicht Personen, die schwere geistige oder körperliche Arbeitseinschränkungen haben, früher in Rente zu gehen. Wenn also das Rentenalter steigt, aber keine ausreichenden Eingliederungsmassnahmen für ältere Arbeitnehmende vorhanden sind, wird die IV-Rente zur Brücke bis zur regulären Pensionierung. Dies gilt insbesondere für Personen, die keine zumutbare Erwerbstätigkeit mehr finden. Die IV-Statistik bestätigt: Personen, die eine IV-Rente beantragen, sind häufig über 50 Jahre. Ohne diese Rente würde diese Alterskategorie in Armut geraten.
Versicherungsbetrug?
Handelt es sich bei den IV-Anträgen teils auch um Versicherungsbetrüger? In der Praxis sind manche gesundheitsbedingte Arbeitseinschränkungen wie Burn-out schwer beobachtbar. Relativ Gesunde, die vorzeitig in Rente gehen wollen, könnten dadurch versucht sein, die Invalidenversicherung als alternativen Weg in den Ruhestand zu nutzen.
Die IV-Stellen prüfen jedoch die Anträge anhand medizinischer Gutachten. Bei übertriebenen Gesundheitsangaben oder Verdacht auf Unstimmigkeiten werden Anträge abgelehnt oder es erfolgen Kürzungen. Die Hürden für eine Anerkennung sind hoch. Zumindest in der Schweiz kann davon auszugegangen werden, dass die meisten Anträge legitim sind. Zumal auch grosse Anstrengungen unternommen werden, Arbeitskräfte in den Arbeitsmarkt wiedereinzugliedern.
Rentenaltererhöhung neutralisieren
Die Wiedereingliederung ist jedoch wie erwähnt nicht immer möglich. Haben ältere Arbeitnehmer ihre Leistungsgrenze erreicht, dann treibt eine Erhöhung des Rentenalters diese Menschen in die Invalidenversicherung. Die Erhöhung des Rentenalters wirkt zwar positiv auf die Gesamtbeschäftigung und vermag auch den Druck auf das Rentensystem zu mindern. Dieser Effekt wird jedoch je nach Ausgestaltung der Invalidenversicherung gedämpft. Laut Studie kann er sogar neutralisiert werden, sollte die Invalidenversicherung ihre Leistungen verbessern.
Die Invalidenversicherung und Altersvorsorge kommen also im Tandem: Einerseits kann eine Verschärfung der Anspruchsvoraussetzungen der IV die Altersvorsorge positiv beeinflussen. Anderseits bewirkt die Erhöhung des Rentenalters die Invalidenversicherung negativ. Diese Zusammenhänge sollten bei den nächsten Reformschritten, die das Rentenalter antasten mitberücksichtigt werden.